Internationale Website des Weng Gong Ci Wushu Guan (Yongchun, Fujian, China)

Languages

Die Zukunft des Baihequan (White Crane) im Fokus

Die Zukunft des Baihequan (Weißer Kranich)

von Haki Celikkol

 

Die Entwicklung der Kampfkünste im Westen ist aufschlussreich für denjenigen, der darüber nachdenkt, wie man das chinesische Yongchun White Crane weiter entwickeln und einer größeren Gruppe von Menschen – auch im Westen – bekannt machen kann. Hieraus ergeben sich bedeutsame Konsequenzen für Lehrinhalte und Lehrmethoden unter Berücksichtigung der Zielgruppe.

 

  1. Einleitung – Kampfkunst im Westen

Vor mehr als 35 Jahren habe ich begonnen, mich mit der Kampfkunst zu beschäftigen. Die Kampfkunst – das war Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre im Westen ausschließlich Karate, das aus Japan nach Europa gekommen war. In diesem, gemessen an meiner Lebenszeit schon recht langen Zeitraum hat das Karate große einschneidende Veränderungen durchlaufen. Wenn wir den derzeitigen Zustand des Baihequan anschauen und uns überlegen, wie wir die zukünftige Entwicklung allgemein fördern und sinnvoll gestalten können, dann ist eine Analyse dieser Veränderungen des Karate interessant und hilfreich. Dies gilt besonders dann, wenn es darum geht, das Baihequan einer größeren Gruppe von Menschen, auch im (westlichen) Ausland, bekannt zu machen.

 

Was hat Karate mit dem Baihequan zu tun? Das Baihequan ist der Ursprung aller modernen Karate-Stile. Darum haben diese beiden Kampfkünste (bei aller Unterschiedlichkeit) sehr viele Gemeinsamkeiten. Die japanischen Instruktoren, die in den Westen kamen, um Karate zu lehren, haben von Anfang an auf diesen Zusammenhang hingewiesen. 2007 entdeckte ich im Internet die Vorführung der Taolu Baihe Ba Fen eines Schülers des Weng Gong Ci in Yongchun, die mich sehr berührte. Eigentümer der Website war ein gewisser Martin Paul Watts, der auf Mallorca/Spanien lebte und selbst im Weng Gong Ci trainiert hatte. Ich nahm Kontakt zu ihm auf und im Jahr 2011 stellte er das Baihequan in zwei Seminaren in unserem Club vor. Er half mir, Kontakt herzustellen mit dem Weng Gong Ci und im darauf folgenden Jahr reiste ich selbst mit vier meiner fortgeschrittenen Schüler nach Yongchun, um mich mit diesem Ursprung direkt zu befassen. Eine einmalige Studienreise war geplant; ich wollte die Kampfkunst ein bisschen besser verstehen, ein bisschen besser unterrichten lernen. Das Karate, mein Leben als Karate-Meister stand völlig außer Frage. Was ich vorfand, übertraf aber all meine Erwartungen, und aus diesem Grund bin ich Martin Watts außerordentlich dankbar dafür, dass er mich Meister Pan und seiner Familie vorgestellt hat.

 

Das direkte Zusammentreffen mit Meister Pan Chengmiao hat dazu geführt, dass ich seitdem jedes Jahr zwei Mal den weiten Weg auf mich genommen habe und mich jede freie Minute mit dem Baihequan beschäftigt habe. Was ich hier gelernt habe, gebe ich an meine Schüler weiter und etliche von ihnen habe ich schon nach Yongchun ins Weng Gong Ci gebracht, damit sie von Pan Shifu lernen. Nun möchte ich hier meine Erfahrungen niederschreiben da ich glaube, dass diese ebenfalls ein Beitrag sein können für die Entwicklung des Baihequan.

 

 

  1. Karate auf Okinawa, in Japan und im Westen

Shinyu Gushin (1939-2012), ein Meister des okinawischen Uechi Ryu Karate, berichtete bei einem Treffen von Vertretern verschiedener Kampfkunst-Stile in London 2007 in einem Gespräch mit Pan Qiongqi, dem Sohn von Meister Pan, dass das Karate ca. 150 Jahre alt sei. Damals waren Menschen von Okinawa nach Fujian gereist und hatten die dortigen Kampfkünste erlernt. Diese wurden die Grundlage für einen neuen Entwurf: das okinawische Karate.

Auch auf Okinawa war die Kunst zu Kämpfen nicht etwas, was jeder jederzeit und überall lernen konnte. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts wurde es von einzelnen Meistern mit jeweils sehr eigenen Prägungen an wenige Schüler weitergegeben und nur den besonders treuen und fleißigen zeigten die Lehrmeister ihr gesamtes Können. Ein solcher Schüler war Gichin Funakoshi (1868-1957). Sein Lehrer war Anko Itosu (1831-1915), der 1908 einen Brief an die Regierung der Präfektur Okinawa sandte, in dem er die Bedeutung der Kampfkunst (die damals To-de 唐手, japanisch To-De hieß) für den Sportunterricht an Schulen herausstellte. Hierin beschreibt er unter anderem die Rolle der Kampfkunst für die Kultivierung des Körpers und die Disziplin des Menschen.

 

Auf Einladung hin reiste Funakoshi im Jahr 1922 nach Tokio und stellte die okinawische Kampfkunst vor, die er Karate (leere Hand) genannt hatte (um sie für die Japaner akzeptabler zu machen). Die Resonanz war so positiv, dass er etliche Jahre in Tokio blieb und unter seinem Künstlernamen 松濤, jap. Shoto, lehrte. Seine Schüler bezeichneten diese Lehre nach dem Namen des Trainingsortes松濤館jap. Shotokan. Funakoshi selbst hatte indes nicht die Absicht, einen neuen Stil zu erschaffen. Seine Lehre war getragen von dem Wunsch, die okinawische Kunst nach Japan zu bringen um das Ansehen Okinawas zu stärken. Für den Unterricht an der Hochschule musste er jedoch das, was er auf Okinawa gelernt hatte, zum Teil drastisch verändern:

 

– er musste die Techniken so vereinfachen, dass er viele Personen gleichzeitig unterrichten konnte

– seine Schüler waren junge Männer, die einen physischen Ausgleich benötigten zu ihren Studien, also traten sportliche Aspekte in den Vordergrund

– um ihrem natürlichen Bedürfnis nach Wettkampf entgegenzukommen, etablierte er stilisierte Zweikämpfe (Zeit seines Lebens wandte er sich jedoch ausdrücklich gegen sportliche Turniere!)

– da die Schüler nur vergleichsweise kurze Lernzeiten absolvierten, konnte er nie das Risiko eingehen, sein gesamtes Wissen an die Studenten weiterzugeben; er kannte sie einfach nicht gut genug

 

Viele von Gichin Funakoshis langjährigen Schülern ließen in den Kriegen des 20. Jahrhunderts ihr Leben. Diejenigen, die das Karate nach seinem Tod im Jahr 1958 in den Westen brachten, waren mit ganz wenigen Ausnahmen ehemalige Studenten der Universität Tokio und hatten entsprechend nur wenige Jahre Erfahrung. Sie führten auch sportliche Wettkämpfe ein mit der Idee, das Karate einem großen Publikum zu zeigen und es zu begeistern. Gleichzeitig professionalisierten sie die theoretischen Grundlagen des Trainings. Die Folgen waren eindrucksvoll: in Deutschland war Karate später eine Zeit lang auf der Liste der beliebtesten Sportarten die Nummer 2 (nach Fußball). Eine große Zahl von Menschen trainierte engagiert und diszipliniert, es wurden viele Clubs gegründet und Verbände, in denen diese sich organisierten. Wie sieht nun die Situation heute aus?

 

Die Anzahl der Menschen in Deutschland, die Karate lernen, sinkt seit einiger Zeit stetig. Es gibt eine ganze Reihe von Vereinen, die aufgrund mangelnder Mitgliederzahlen aufgehört haben. Darüber hinaus kann man sehen: Noch vor 7 oder 8 Jahren fanden regelmäßig im ganzen Land Lehrgänge bekannter Meister statt, die gut besucht waren. Diese sind fast vollständig aus dem Programm des Verbandes verschwunden. Nur wenige hochrangige Dan-Träger bieten überhaupt noch Lehrgänge an. Große überregionale Freundschaftstreffen finden überhaupt nicht mehr statt. Die reine Anzahl an Turnieren ist groß; besucht man diese, stellt man jedoch fest, dass sich immer kleinere Gruppen von Athleten zusammenfinden. Hierfür gibt es eine Vielzahl zu vermutender Gründe:

 

 

– es gibt heute eine große Auswahl an Kampfsportarten

– es gibt ganz allgemein eine immer größere Auswahl an anderen Sportangeboten

– die Menschen haben weniger Zeit als früher (die wirtschaftlichen Veränderungen der letzten Jahre haben zu einer Erhöhung der Arbeitslast geführt)

– die Menschen möchten heutzutage schnelle Erfolge sehen und nicht jahrelang üben etc.

 

Vielleicht lässt sich hierdurch erklären, dass Menschen gar nicht erst mit dem Training beginnen; warum aber hören so viele nach Jahren auf? Wer einen schwarzen Gürtel trägt, hat jahrelanges Training hinter sich, aus welchem Grund macht er nicht einfach weiter? Ich weiß die Antwort nicht, aber ich möchte hier einmal einige Eindrücke schildern, die sich beim Blick auf den Karate-Betrieb ergeben, auf das Training in den Clubs, die Turniere, die angebotenen Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten sowie die Weise, in der Öffentlichkeitsarbeit betrieben wird:

 

Training:

– das Training folgt Funakoshis Konzept mit dem Ziel der Kultivierung des Körpers und des Sports

– auch die Partnerübungen in Form von stilisierten Zweikämpfen werden geübt, die vor allem das Ziel verfolgen, schnell und präzise zu sein und eine gute Kondition zu erlangen (und nicht, um sich in einer direkten Auseinandersetzung zu behaupten)

– die Anwendung der Techniken, wie sie dem Entwurf Funakoshis entsprechen, werden wenig gezeigt und/oder erscheinen willkürlich

– die Qualität der Bewegungen wird durch ihre Sportlichkeit bestimmt: Tritte müssen hoch und akrobatisch sein, die Stände tief

 

Das bedeutet:

=> es wird ein Karate gelehrt, das dem Menschen die grundlegenden Fähigkeiten für die Selbstverteidigung nicht beibringt, weil diese Idee nicht in Funakoshis Entwurf vorhanden war

=> die Art des Zweikampfes, der in den Dojos geübt wird, ist rein sportlicher Natur und darum vor allem für junge Menschen interessant

=> Anwendungen werden gezeigt, weil die Schüler sie gerne lernen möchten; da sie im ursprünglichen Konzept nur teilweise mitgedacht waren, sind sie nicht für eine tatsächliche Auseinandersetzung aufbereitet. Man beachte aber, dass die meisten Schüler mit der Idee der Selbstverteidigung mit dem Üben einer Kampfkunst beginnen (hierzu später mehr)

=> viele Menschen hören nach jahrzehntelangem Training auf, weil die Anforderungen des Karate ihrem Körper geschadet haben: Probleme mit Knien und Hüfte und anderen Gelenken sind unter Karateka sehr weit verbreitet

 

Turniere:

– hier wird die Qualität der Techniken mit Blick auf Schnelligkeit, Präzision und Ästhetik beurteilt, hinzu kommen Showeffekte

– zu einer Team-Kata gehört die Vorführung der Technik-Anwendungen. Diese ist mittlerweile eine nahezu beliebige Show mit teils akrobatischen Darbietungen ohne erkennbaren Bezug zu den Techniken in der Kata

– die Teilnehmer sind in eine große Anzahl von Kategorien unterteilt. Wenn im Zweikampf alle 5 kg Körpergewicht eine neue Gewichtsklasse beginnt, sind die Gruppen häufig sehr klein. Am Ende hat nahezu jeder Teilnehmer eine Medaille gewonnen

 

Das heißt:

=> das Turnier verstärkt die Betonung der rein sportlichen Zielsetzung; Leistungssport ist jedoch nur kurze Zeit im Leben möglich – und auch nicht für jedermann

=> die Masse der Medaillen wirkt wie eine Inflation; wenn ich in einer Gruppe gegen 3 Gegner antreten muss, ist eine Bronzemedaille nahezu wertlos. Das erkennt schon ein Kind.

 

Öffentlichkeitsarbeit:

Passend zu dem bisher gesagten ist die Öffentlichkeitsarbeit im Verband darauf zurechtgeschnitten, die sportlichen Leistungen in den Vordergrund zu rücken. Beliebtes Werbebild ist immer noch der junge Mensch in einer Trittposition, bei der das tretende Bein nahezu senkrecht nach oben zeigt. Eindrucksvoll, aber doch eher für einen Turner.

 

Darum gilt:

=> Wer nicht Leistungssport machen möchte oder kann – was und wozu soll er üben? Und wie viele Menschen – auch junge – können und möchten Leistungssport treiben? Leistungssportler haben eventuell eine Karriere als Trainer vor sich; auch dies ist ein Weg für wenige. Ganz abgesehen davon, dass jede Art von Leistungssport für den Körper eher fragwürdig ist.

 

Weiterbildung:

Seit einiger Zeit gibt es nun auch Seminare, in denen man sich zum Lehrer für Selbstverteidigung ausbilden lassen kann. Durch die ausschließliche Betonung des Sports befindet sich das Karate also jetzt in einem Zustand, in dem ein Mensch, der seit 20 Jahren eine Kampfkunst übt, die Anwendung der Techniken zur Verteidigung erst noch einmal lernen muss.

 

Dazu lässt sich nur eines sagen:

=> Das Angebot selbst beschämt die Menschen, die fleißig und diszipliniert jahrelang trainiert haben

 

 

III. Berührung des Westens mit dem Baihequan

Ob und in welcher Weise die vorherigen und die nachfolgenden Betrachtungen bedeutsam sind für die chinesischen Kampfkünste, liegt nicht in meiner Zuständigkeit. Ich möchte nun aber gerne noch einmal den Blick wenden in Richtung des Baihequan.

 

Das heutige Baihequan enthält noch sehr viel von dem, was es als Wurzel des Karate erkennbar macht. Es gibt z.B. Techniken, die leicht in zwei, drei oder mehr Einzeltechniken des Karate zerlegbar sind. Manchmal braucht man auch nur die Richtung einer Ausführung geringfügig zu ändern, schon erkennt man die Karate-Technik (die durch diese kleinen Veränderungen oft genug unschädlich gemacht wurde – und damit verwirrend). Wie oben beschrieben sind es vor allem die Faktoren Vereinfachung, Ästhetisierung und Betonung des Sports, die dem Karate seine heutige Form gegeben haben. Das Baihequan aber, das ich im Weng Gong Ci Wushu Guan in Yongchun gefunden habe, verkörpert in außerordentlich reiner Weise dessen Prinzipien. Es ist darum wie ein Lehrbuch im umfangreichsten Sinne mit dem Potenzial, die Menschen im Westen mit der Kampfkunst zu versöhnen durch Aufklärung.

 

 

Wo Unkenntnis herrscht, kann man wieder und wieder erleben, dass Menschen von Geheimnissen einer Kampfkunst sprechen. Wie oben beschrieben, benötigt ein Schüler eine lange Zeit, um einerseits das Vertrauen seines Lehrers zu erlangen, aber eben auch, um seinen Körper vorzubereiten. Meines Erachtens gibt es keine Geheimnisse; es gibt höchstens Stufen des Verständnisses. In den Techniken, wie sie von Pan Shifu ausgeführt werden, sind alle vermeintlichen Geheimnisse des Baihequan enthalten – in derselben Weise, wie jeder Tropfen die Essenz des Meeres in sich trägt.

 

Die Aufklärung geht aber weit rüber die Techniken hinaus. Über so viele Jahrzehnte und tausende Kilometer (von den sprachlichen Schwierigkeiten gar nicht zu reden) wurden nicht nur Techniken und Ausführungen verändert. Es wurden darüber hinaus so viel Wissen, so viele Ideen, Vorstellungen, Überzeugungen, Trainingsprinzipien und -methoden bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Auch ein sehr großer Teil vor allem der medizinischen Aspekte, die das Baihequan für den Menschen ein Leben lang machbar und hilfreich machen, hat den Weg in den Westen nicht geschafft: zu unterschiedlich ist das Menschenbild in der westlichen Vorstellung von dem in der chinesischen.

 

Ich bin fest davon überzeugt: Die Auseinandersetzung mit dem Baihequan kann das Arzneimittel sein, das die enttäuschten Menschen im Westen heilt. In der chinesischen Lehre ist alles enthalten, was ein Mensch benötigt, um seine Gesundheit zu fördern und sein Kampfkraft zu stärken. Das System ist organisch, flexibel und kreativ und somit anpassungsfähig an jeden Menschen und jede spezifische Situation: eine wahre Kampfkunst, die den Körper erhält und stärkt und ihm die körperliche und geistige Kraft und Beweglichkeit vermittelt, die er benötigt, wenn er gefordert ist – in welcher Weise auch immer.

 

Dies ist der Grund, weshalb ich meine Anstrengungen in Europa dahin richte, besonders höhere Dan-Träger mit dem Bahequan zu konfrontieren und sie dafür zu interessieren – und die einflussreichsten von ihnen mit hierher zu nehmen, damit sie ihre eigenen Erfahrung machen und am eigenen Leib erleben, wie sie ein neues Verständnis entwickeln für das, was sie womöglich seit Jahrzehnten üben und wie sich ihr Verhältnis hierzu verändert.

 

Es ist indes nicht leicht, diese Menschen dazu zu bewegen, sich auf einen solchen Schritt einzulassen. Warum ist das so? Zunächst einmal ist es auch heutzutage nicht für jedermann ganz leicht, nach China zu reisen. Sicher, viele haben schon Peking oder Shanghai besucht, eine Yangzi Kreuzfahrt gemacht oder waren in Xi’an. Eine Studienreise in eine ländliche Region aber, ohne irgendwelche Sprachkenntnisse, das tun höchstens junge Menschen – diese sind dann aber keine höheren Dan-Träger im Karate. Darüber hinaus wird jeder Mensch es sich zweimal überlegen, 10.000 km zu reisen, wenn er im Hinterkopf die Sorge hat, dass alles, was er bislang gelernt hat, auf dem Prüfstein steht. Auch, wenn man unzufrieden ist – oder vielleicht gerade deshalb: der erste Schritt ist bei weitem der schwierigste. Was also tut ein moderner Mensch, der mit der Idee in Berührung gekommen ist, dass es in China unter dem Begriff Baihequan oder White Crane für ihn Interessantes zu entdecken gibt? Natürlich: Er geht im Internet auf die Suche nach Information und vor allem nach Videos.

 

 

 

 

 

Im Internet kann man heute natürlich umfangreiches Video-Material ansehen. Dann sind da die Websites diverser Clubs, die offenbar im Wettstreit darüber liegen, wer nun das älteste, das traditionellste und originalste White Crane lehrt. Interessant ist hierbei, dass die Begriffe alt, traditionell und original eigentlich mehr oder weniger versteckte Synonyme sind für gut. Hierzu später mehr. Zunächst einmal verhält es sich mit diesen Informationen wie mit allem, was das Internet zu bieten hat: die eigentliche Qualität dessen, was man sieht, kann man nicht beurteilen.

 

 

Sicher kann man nur folgendes sagen:

– das äußere Erscheinungsbild, die Bewegungen, die man sieht, sehen sehr viel anders aus, als das, was die allermeisten Kampfkunst-Begeisterten hier im Westen gewohnt sind

– die Präzision der Ausführungen, die Art der Kraftübertragung, die Biomechanik – alles das ist sehr unähnlich zu dem Vertrauten

– sogar das Umfeld, die Umstände, unter denen geübt und aufgeführt wird, wirken anders: die Trainingsorte, die Bekleidung, sogar die öffentlichen Demonstrationen sind grundsätzlich anders als alles, was die Menschen hier jemals gesehen haben

– auch die Anwendung der Techniken im Kampf wird kaum in verständlicher Form gezeigt (man kann z.B. Videos finden, in denen ein Meister mit einem einzigen Stoß eine ganze Gruppe von Menschen zum Fallen bringt). Auch das geschulte Auge benötigt eine Weile, um die oben beschriebene Klarheit zu erkennen (dies ist in der direkten Anschauung von Mensch zu Mensch leichter, in einem Video aber äußerst schwierig!)

 

So hilfreich es ist, dass wir heute Informationen leicht zugänglich im Internet finden: in diesem Fall bildet es eine neue Hürde mit Blick auf die Idee, die Menschen im Westen für das Baihequan einzunehmen.

 

 

  1. Eine Kampfkunst (auch) für den Westen

Diejenigen Europäer also, für die das Baihequan von wirklicher, fundamentaler Bedeutung ist (und die darum, davon bin ich überzeugt, auch für das Baihequan und seine Entwicklung von fundamentaler Bedeutung sind) kann man zunächst in etwa folgendermaßen charakterisieren:

 

– sie haben in aller Regel mehrere Jahrzehnte (mindestens 15-20 Jahre) Training im Karate hinter sich

– sie haben Lehrerfahrung

– sie haben mindestens eine Grundausbildung als Lehrer oder Trainer, da man ansonsten (zumindest in Deutschland) keinen Club leiten darf

– sie verfügen über brauchbares Grundwissen in Bezug auf Trainingsmethoden und solche Inhalte wie Biomechanik und westliche Medizin

– sie haben strenge und aufwändige Prüfungsverfahren über sich ergehen lassen

– sie hegen Zweifel, denn sie sind alle in gewisser Weise bereits enttäuscht worden

 

Die Enttäuschung bezieht sich vor allem auf das, was die Kampfkunst ihnen auf lange Sicht bieten kann. Für die Menschen im Westen ist Kampfkunst immer mit der Idee der Selbstverteidigung im weitesten Sinne verbunden gewesen. Dies gilt auch für den Bereich des Kindertrainings. Sehr viele Kinder, insbesondere die Mädchen, werden von ihren Eltern zum Training gebracht, wenn sie das Gefühl haben, dass ihre Töchter und Söhne schwach und zu leicht verletzlich sind, in der Schule geärgert oder angegriffen werden, und dass sie weder die körperlichen Fähigkeiten noch die seelisch-geistige Stärke haben, um hiermit umzugehen. Auch wenn sich die meisten Erwachsenen nicht oft gegen einen körperlichen Angriff wehren mussten, so fühlen sie sich doch oft genug unsicher: abends, alleine unterwegs oder in manchen Stadtvierteln. Sie wünschen sich Wehrhaftigkeit für den Notfall, für sich und auch für ihre jugendlichen Kinder, die sie nicht beschützen können, wenn diese z.B. am Wochenende mit ihren Freunden unterwegs sind. Die Anwendung der Kampfkunst und das möglichst realistische Üben müssen im Westen demnach unbedingt in die Lehre aufgenommen werden. Diese Übungen sollten grundsätzlich von Anfang an durchgeführt werden, damit das Gefühl der nutzlosen Kampfkunst gar nicht erst entstehen kann. Dies gilt umso mehr für diejenigen, die nach mehr oder weniger langem Üben sich dem Baihequan zuwenden: kein Mensch, der lange Jahre eine Kampfkunst geübt hat, ist bereit, noch einmal Jahre mit Grundübungen zu verbringen, bevor er darüber hinausgehende Inhalte lernen darf.

 

Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass ich der Meinung bin, dass das jahrelange Üben grundsätzlich verkürzt werden kann – natürlich benötigt der Körper dieses, um die Kunst zu verinnerlichen und sich entsprechend zu entwickeln! Es ist eine Frage der Methode, die dem Menschen ein Ziel – auch ein unter Umständen weit entferntes Ziel – in Sicht bringen muss, damit seine Motivation erhalten bleibt. Die Menschen von heute sind sehr viel stärker zielorientiert als in alten Zeiten. Das mag man unterschiedlich bewerten; sicher ist aber, dass ein Mensch, der weiß, zu welchem Zweck er Arbeit in eine Sache investiert, wesentlich fleißiger und leistungsfähiger ist.

 

Ein anderer Aspekt der Lehrmethode ist ebenfalls beachtenswert: die Arbeit des Körpers. Die Menschen im Westen benötigen, wie in China mittlerweile auch, einen körperlichen Ausgleich zu ihrem Alltag. Wer körperlich schwer arbeitet, profitiert ohne weiteres vom ruhigen Üben der Taolu des Baihequan. Heute aber verbringen die meisten Menschen viel Zeit am Schreibtisch und vor dem Computer. Auch ihnen nützt das Üben, sie benötigen aber etwas mehr anregende, anstrengende Bewegungen. Im Westen nehmen sich die Menschen im Schnitt zwei Mal in der Woche am Abend Zeit hierfür, in aller Regel kaum mehr als eine Stunde. Wenn die Kampfkunst nicht genügend Bewegung bringt und allzu lange an derselben Stelle, der immer gleichen Übung verharrt, werden sie nicht dabei bleiben. Die Trainingsmethoden (wohlgemerkt: die Methoden, nicht die Inhalte!) müssen demnach auch diesbezüglich modifiziert werden.

 

Seit 25 Jahren unterrichte ich neben Erwachsenen auch viele Kinder. Kinder bleiben häufig nicht so lange bei einer Sache. Sie sind mit einer Vielzahl von Angeboten konfrontiert und möchten verschiedenes ausprobieren. Wenn sie älter werden und ihre Freunde in anderen Verein aktiv sind, wechseln sie häufig zu diesem. Darum kann man mit ihnen viel Erfahrungen sammeln in Bezug auf die Frage, wie man einen Menschen effektiv und auch effizient unterrichten kann. Wir haben bislang folgende Erkenntnisse gesammelt:

 

– es ist günstig, wenn neue Schüler einzelne Bewegungen wie Tritte, Schläge oder auch den Stand über längere Zeit intensiv üben; wenn sie diese beherrschen, meistern sie eine Form wie San Zhan deutlich leichter

– ohne diese Vorübungen fällt ihnen das Erlernen der Taolu sehr schwer, sie verfügen nicht über genügend Geschicklichkeit und Koordinationsvermögen hierzu

– überhaupt erscheint es im Westen utopisch, dass Kinder sich auf 2, 3 Jahre Kata-Training einlassen, auch wenn es ihnen noch so gut tun würde.

Die Kinder kommen niemals zu uns mit der Idee, Taolu zu lernen. Wenn wir sie fragen, was sie lernen möchten und was ihre Vorstellung ist von dem was man in einer Kampfkunstschule tut, dann sagen sie, dass sie kämpfen lernen möchten. Irgendwann bekommen sie durch die anderen Kinder mit, dass sie in Form einer Taolu die Qualität ihrer Fähigkeiten beweisen müssen, wenn sie eine Prüfung machen und einen Gürtel haben möchten. Ab dann fragen sie nach und möchten Taolu üben, werden jedoch auch dann noch beim Üben sehr schnell ungeduldig. Die Geduld ihrer Eltern in Bezug auf Prüfungen und das Erlangen von Gürteln ist indes abhängig von deren wirtschaftlichem Zustand. Je höher der Reichtum, desto schneller erwarten sie Leistung von Lehrern und Kindern.

 

Bei uns gilt denn auch: die Kinder beginnen ihr Training mit Partnerübungen. Diese werden zu ihrem Schutz mit kompletten Körperpolstern durchgeführt. Daneben erfolgen Übungen in den Grundtechniken Treten, Schlagen und für die Stände. Wenn sie über längere Zeit bleiben, lernen sie Taolu. Auf diese Weise kommen wir ihnen entgegen, denn das ist es, was sie sich von einer Kampfkunst versprechen. Kinder, die nur für eine kurze Weile bei uns im Verein bleiben, haben entsprechend dennoch grundlegende Fähigkeiten im Zweikampf erlangt, die für den Rest ihres Lebens nützlich sein können.

 

Für die Erwachsenen ist der Schwerpunkt des Trainings etwas anders gelagert. Natürlich benötigen diese nicht ganz so viel Unterstützung zum Erhalt der Motivation und es reicht, ihnen immer wieder die Ziele des Übens in Sicht zu bringen. Ansonsten steht für sie zunächst die Kultivierung des Körpers im Vordergrund; Partnerübungen zur Anwendung der Techniken finden statt, jedoch weit weniger als im Kindertraining. Stärker als dort werden mit den Erwachsenen auch diejenigen Partnerübungen durchgeführt, die direkt aus dem Baihequan kommen und Stände, Balance, Schwerpunktgefühl und auch die Koordination schulen.

 

Wenn wir überblicken können, dass ein Anfänger koordinativ dazu in der Lage ist, eine Taolu zu lernen, lernt er ebenfalls Taolu. Dieses Training wird immer wieder ergänzt durch Einüben von Grundtechniken und gelegentlichen Zweikampfsequenzen. Da die beiden zuletzt genannten Übungen leicht so zu gestalten sind, dass sie mit guter körperlicher Anstrengung verbunden sind, kommt auch das Bedürfnis der Erwachsenen nach physischer Anregung nicht zu kurz.

 

Bleiben noch diejenigen, die als erfahrene Karateka (oder auch aus anderen Kampfkünsten) zu uns kommen. Für sie ist es wichtig, zügig einen guten Einblick in das Wesen des Baihequan zu erlangen. Ihre grundsätzliche Motivation zu üben haben sie längst unter Beweis gestellt. Wenn sie sich nun von den gewohnten Pfaden entfernen und sich auf neue Inhalte einlassen, ist es von fundamentaler Bedeutung, dass sie in überschaubarer Zeit möglichst viele Techniken des Baihequan am eigenen Leib erfahren und so die Möglichkeit erhalten zu erkennen, dass das bisher Gelernte nicht im Widerspruch zu dem Neuen steht. Sie werden (so wie ich auch) bemerken, dass die Formen dem Körper vertraut sind, auch wenn sie noch so ungewohnt wirken.

 

Das Auge ist leicht zu täuschen – der Körper ist es nicht. Er spürt die Vertrautheit, die das betrachtende Auge oftmals vergeblich sucht. Erfahrungsgemäß hat jeder Kampfkunst-erfahrene, der mit dem Üben des Baihequan beginnt, nach kurzer Zeit immer wieder erhellende Momente, regelrechte Aha-Erlebnisse, die zweierlei bewirken: einerseits erkennt er, dass er einen neuen Zugang zu der ihm langjährig vertrauten Kampfkunst erhält. Andererseits wird ihm klar, dass er all sein Wissen, all sein Können weiter zur Verfügung hat und verwenden kann; dass er das Vergangene weiter üben und auch in vielleicht ungeahnter Weise weiter entwickeln kann. Das nimmt dem Menschen die Sorge, die jeden beschleicht, der sich auf etwas gänzlich Neues einlässt und vermittelt ihm die Freude, eigenständig kreativ werden zu können – den Zugang zur Kunst im eigentlichen Sinne.

 

Der Einstieg für erfahrene Karateka erfolgt in meinem Verein demnach eventuell kurz über San Zhan; so bald wie möglich aber zeige ich diesen Personen eine eigens zu diesem Zweck zusammengestellte Übungssequenz, in der bereits ein großer Anteil der Baihequan-Techniken enthalten sind. Die Kombination erfolgt in Hinblick auf rein kämpferische Aspekte, die für den erfahrenen Kämpfer leicht erfahrbar sind oder gemacht werden können. Damit wird das Ziel des Übens auch für diese Menschen unmittelbar sichtbar. Danach folgen die Partnerübungen aus dem Baihequan zur Förderung von Schwerpunkt, Balance, Energiefluss und Kraftübertragung.

 

 

  1. Zusammenfassung

Meine Ideen für die zukünftige Gestaltung des Baihequan mit Blick auf den Westen lassen sich abschließend darstellen wie folgt:

 

– die Anwendung der Techniken sind tragender Grund einer jeden Kampfkunst und dürfen nicht in Vergessenheit geraten

– Wettkämpfe machen besonders jungen Menschen viel Spaß; sie sollen darum stattfinden, dürfen aber nicht zu Lasten der Wurzel gehen

– Veränderungen sind stetig nötig, sie sollen aber erfolgen mit Blick auf die Nutzbarkeit. Dann sind sie kreative Anpassungen an immer neue äußerliche und individuelle Bedingungen und halten das System flexibel und anpassungsfähig; auch sie dürfen nicht zu Lasten der Wurzel gehen

– ästhetische Überlegungen dürfen ebenfalls nie unabhängig von den Kampfprinzipien erfolgen. Weisen der Körperkultur mit dem Schwerpunkt auf Schönheit gibt es reichlich: Ballett, Turnen, Akrobatik – und sie alle sind diesbezüglich den Kampfkünsten weit überlegen.

– Die Trainingsmethoden müssen den Schülern entgegenkommen; sie müssen die jeweiligen Bedingungen berücksichtigen, unter denen sie sich zum Training entschlossen haben (und damit die individuellen Ziele der Menschen in den Blick nehmen). So erscheint, wie oben skizziert, eine Einteilung in Kinder und Jugendliche, Erwachsene ohne Vorkenntnisse und Kampfkunst-erfahrene Anfänger sinnvoll.

 

Ich hoffe, mit diesen Ausführungen einen Beitrag zu leisten dazu, dass das Baihequan in seiner Vollständigkeit und Schönheit für die Zukunft bereitet werden kann.

Mein Dank gilt allen Lehrern des Weng Gong Ci Wushu Guan in Yongchun und hier vor allem dem Leiter Pan Chengmiao, der in besonders überzeugender und herausragender Weise den Stil und seine Prinzipien verkörpert.

 

“Tradition ist das Weiterreichen des Feuers, nicht das Bewahren der Asche” – auf dass dieser so häufig zitierte Satz Wirklichkeit werde!

 

Im Juli 2015

Haki Celikkol

 

Updated: 29. November 2015 — 13:20
Yongchun White Crane © 2015 Frontier Theme